Spectrum Markets | „Gierflation“: Löhne befeuern die Inflation weniger als angenommen
Michael Hall, Head of Distribution bei Spectrum Markets
Investmentfonds.de | Wie die EZB feststellt, besteht einer der wichtigsten Unterschiede zwischen der amerikanischen und der europäischen Inflation darin, dass die Inflation in Europa hauptsächlich angebotsgesteuert sei, während sie in den USA viel stärker nachfragegesteuert ist. Die Rolle des privaten Verbrauchs in der US-Wirtschaft oder der dortige viel dynamischere Arbeitsmarkt führen dazu, dass sich die Inflation schneller entfaltet, sie empfindlicher auf geld- oder fiskalpolitische Maßnahmen der Zentralbank reagiert und somit früher eingedämmt werden kann.
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Wir müssen verstehen, was die Treiber für höhere Preise sind, wie sie zusammenhängen und welche geldpolitischen Maßnahmen zu ergreifen sind. Interessanterweise macht es etwa keinen großen Unterschied, ob man sich bei der Betrachtung langfristiger historischer Durchschnittswerte auf die Gesamtinflation oder die Kerninflation bezieht, wenn man die langfristigen historischen Durchschnittswerte betrachtet. Allerdings schwankt die Gesamtinflation so viel stärker um einen Mittelwert, dass sie wenig Aufschluss über die von den Zentralbanken beobachteten Zeiträume gibt. Wie stark diese Schwankungen sein können, zeigt die auf drei Monate hochgerechnete Inflationsrate auf der Grundlage saisonbereinigter Daten, welche die EZB beobachtet, um Trendwenden in der Inflationsdynamik zu erfassen. Wie die Zentralbank in ihrem Sitzungsprotokoll vom März feststellte, ist die Gesamtinflation nach diesem Maßstab von rund 11 % im November 2022 auf etwa 3 % im Februar 2023 gesunken – eine Entwicklung, die ausschließlich auf die nachlassende Energieinflation zurückzuführen ist. Innerhalb der Kerninflationsrate überwacht und vergleicht die EZB auch energieabhängige und nicht energieabhängige Sektoren, um die indirekten Auswirkungen der Energie- und Nahrungsmittelbestandteile auf die Kerninflation zu bewerten.
Theoretisch gibt es eine Inflation mit Pull-Effekt seitens der Nachfrage, die auftritt, wenn die Gesamtnachfrage schneller wächst als das Gesamtangebot, oder eine Inflation mit Push-Effekt durch die Kostenseite, die entsteht, wenn die Produktionspreise steigen – als Folge steigender Rohstoffpreise oder Löhne. Zu beobachten ist eine Inflation als Folge einer Geldmengenverknappung als auch eine eingebaute Inflation, wenn die Preise aufgrund der reinen Erwartung steigen, dass sie steigen werden. Letztere steht zunehmend im Mittelpunkt des Interesses der Zentralbanken. Sie wollen eine sogenannte Entankerung der Inflationserwartungen vermeiden. Dieser Auffassung zufolge sind die Inflationserwartungen verankert, solange die Menschen davon ausgehen, dass die langfristige Inflation relativ unverändert bleibt, auch wenn die Preise vorübergehend über ihre kurzfristigen Inflationserwartungen hinaus steigen. Im Gegensatz dazu sind die Inflationserwartungen veränderbar, wenn die langfristigen Inflationserwartungen der Menschen erheblich ansteigen, weil die Preise nur vorübergehend über ihre kurzfristigen Erwartungen hinaus ansteigen.
Dies ist nicht nur eine Erklärung dafür, warum die Zentralbanken lange Zeit nicht auf die hohe Inflation reagiert haben. Sie muss im Zusammenhang mit den „Zweitrundeneffekten“ der Gesamtinflation gesehen werden. Wie die EZB in ihrem Sitzungsprotokoll vom März formulierte: „Die Entwicklung der Gewinne im Vergleich zu der Entwicklung der Löhne deutet darauf hin, dass die Löhne in den letzten zwei Jahren nur einen begrenzten Einfluss auf die Inflation hatten und dass der Anstieg der Gewinne wesentlich dynamischer war als der durch die Löhne“.
Das bedeutet, wenn die Unternehmen die höheren Kosten einfach an die Kunden weitergegeben hätten, wäre dies gewinnneutral gewesen. Dieses Phänomen kann als „Gierflation“ oder „Winflation“ bezeichnet werden, und obwohl es schwer zu beweisen ist, deutet der EZB-Bericht darauf hin, dass dies tatsächlich stattfindet und dass das Ausmaß seiner Fortsetzung Auswirkungen auf die Inflation haben könnte.
Andere Faktoren sollten nicht unterschätzt werden, die in Zukunft zu einer höheren Inflation beitragen könnten, wie etwa eine Lohn-Preis-Spirale, sobald es weitere Lohnerhöhungsrunden gibt, oder die Kosten der De-Globalisierung infolge der Verlagerung von Arbeitsplätzen und Produktion auf heimische Märkte, um Probleme in der Lieferkette besser bewältigen zu können. Bislang konnten diese Faktoren jedoch noch keinem bedeutenden Ereignis zugeordnet werden. Allerdings werden „die Arbeitskosten (...) zu einer dominanten Triebkraft der Inflation“, wie die EZB in ihrer jüngsten Inflationsprognose erklärte.[1] Darüber hinaus werden die Preise im Dienstleistungssektor eine dominierende Wirkung haben.
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